Stress und das Immunsystem (Teil 1)

27.04.2023

Einleitung

Im Zuge der Ursachenforschung von Krankheiten werden Viren, Bakterien, Genetik, Toxine der Umwelt und die Ernährung elaboriert. Einen oft übersehenen, aber wichtigen weiteren Einfluss- und Risikofaktor stellen frühe emotionale Traumata und damit einhergehender chronischer Stress in Kindheit und Erwachsenenalter dar (Karr-Morse et al., 2013). Solche stressbedingten bzw. stressassoziierten Krankheiten sind sowohl auf individueller Ebene für die Betroffenen bedeutsam, als auch auf gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Ebene. Die Krankheitskosten, die beispielsweise 2015 durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen entstanden sind, betrugen in Deutschland 46,4 Milliarden Euro, die für psychische Störungen 44,4 Milliarden Euro (Statistisches Bundesamt, 2017). Die Kosten, welche jährlich durch Allergien in Europa entstehen, werden auf 10 bzw. 20 Milliarden Euro geschätzt (Kirschbaum, 2001).

Frühkindliche Traumata gehören zu den zentralen Risikofaktoren für die Entstehung verschiedenster psychischer und körperlicher Erkrankungen im weiteren Leben. Die Forschung zeigt, dass die Exposition gegenüber traumatischen Stressoren und psychologischen Traumata weit verbreitet ist. Über zahlreiche Studien hinweg konnte ein starker Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an kindlichen Stresserfahrungen und dem Auftreten unterschiedlichster Erkrankungen im weiteren Leben gezeigt werden. Darunter nicht nur typische psychische Störungen wie Depressionen oder Angststörungen, sondern auch Atemwegserkrankungen, Diabetes, chronische Entzündungs- und Erschöpfungssyndrome, Allergien, Herzkreislauf-Krankheiten sowie Autoimmunerkrankungen (Boscarino, 2004; Entringer et al., 2016; Geiger, 2013; Nakazawa & Panster, 2019). Frühkindliche Traumata bilden ein globales Problem, bei dem es weiterhin an Forschung zu den körperlichen Folgen und deren Prävention mangelt.

Der Zusammenhang zwischen traumatischen Erfahrungen/chronischem Stress und später auftretenden Störungen des Immunsystems wurde bereits in einigen Studien wiederholt untersucht und in der Literatur beschrieben. Trotz des eher noch jungen Forschungsfeldes der Psychoneuroimmunologie ließ sich für die Erstellung dieser Arbeit ausreichend Literatur finden. Weiterhin ließ sich bereits in der Erarbeitung dieser Themen die hohe Relevanz des Themas erkennen. Die Ergebnisse zur Korrelation zwischen frühen traumatischen Erfahrungen sowie damit einhergehendem chronischem Stress und im späteren Leben auftretenden Immunfunktionsstörungen sind oft schwer zu untersuchen und eindeutig zu belegen. Dennoch lassen sich wichtige Erkenntnisse aus der Forschung und der Literatur ziehen. Vor allem, um die komplexen Zusammenhänge zwischen Psyche und Körper besser zu verstehen und die Gesundheit der Menschen ganzheitlicher ergründen zu können.

Dieser Text befasst sich mit von außen auf das Individuum einwirkende Stressfaktoren und dessen Konsequenzen. Eine Vertiefung zu Genetik und genetischer Vorbelastung wird nicht erfolgen, u.a. da bereits jetzt die Forschung zur Epigenetik sehr weit ist und Hypothesen bestehen welche besagen, dass viele der genetischen Vorbelastungen erst durch einen "Trigger" in der Lebensweise exprimiert werden, sodass sie als beinflussbar gelten. In neuerer Literatur und Forschung zur Epigenetik hat sich vielfach gezeigt, wie sehr Umwelteinflüsse die Aktivität von Genen dauerhaft beeinflussen können. Menschen sind keinesfalls nur ihrer sogenannten genetischen Vorbelastung "ausgeliefert". Die Lebensweise und die Erfahrungen, die gemacht werden, beeinflussen die Gesundheit des Organismus maßgeblich (Himmer & Niehaus, 2020; Lourida et al., 2019; Rutten-Jacobs et al., 2018; Schubert, 2013).


Immunsystem und Immunfunktionsstörungen

Der menschliche Organismus verfügt grundlegend über zwei Abwehrsysteme: ein angeborenes (unspezifisches) und ein adaptives (spezifisches, erworbenes) Immunsystem. Beide Systeme dienen der komplexen Identifizierung von Pathogenen und potenziell schädlichen Einflüssen auf den Körper (Berg et al., 2015). Die Werkzeuge dieser Systeme finden sich an verschiedenen Stellen im menschlichen Körper (Löffler et al., 2006).

Das angeborene Immunsystem steht unmittelbar zur Verfügung, kann die unterschiedlichen Erreger aber deutlich schlechter unterscheiden als das im Laufe des Lebens erworbene adaptive Immunsystem (Schmidt et al., 2011). Zu den Zellen des angeborenen Immunsystems gehören die Granulozyten, Makrophagen und die Mastzellen (Schmidt et al., 2011).

Das adaptive Immunsystem bildet sich im Laufe des Lebens durch den Kontakt mit unterschiedlichen Erregern (Mikroimmuntherapie, 2022). Es ist in der Lage viele verschiedene Proteine zu bilden, welche Antikörper genannt werden. Diese besitzen die Fähigkeit, verschiedene körperfremde Moleküle zu identifizieren (Berg et al., 2015). Hierzu gehören u.a. die weißen Blutkörperchen (Lymphozyten) und erworbene Abwehrproteine (Antikörper). Dabei braucht es eine längere Anlaufzeit als das angeborene System, ist aber im Vergleich in seiner Arbeit spezialisierter und zielgerichteter. Die Zellen des Immunsystems kommunizieren zum Teil direkt miteinander oder über die sogenannten Zytokine (Löffler et al., 2006).

Zytokine dienen dazu, Hilfe von anderen Immunzellen oder Organen zu erhalten. Sie gehören hauptsächlich zum unspezifischen Immunsystem und lassen sich als "Immunbotenstoffe, die zwischen nahe beieinanderliegenden Zellen des Immunsystems Wirkungen vermitteln, also etwas zwischen Zellen bewegen" (Straub, 2017, S. 26) definieren (Mikroimmuntherapie, 2022; Straub, 2017). Es besteht eine komplexe Wechselwirkung zwischen Zytokinen, Entzündungen und den adaptiven Reaktionen bei der Aufrechterhaltung der Homöostase des Organismus. Während einer Immun- und Entzündungsreaktion kommt es zur Freisetzung von Zytokinen, wie Interleukin-1,-6 und -12 sowie dem Tumor-Nekrose-Faktor (Calcagni & Elenkov, 2006). Gewöhnlich haben sie wenig Fernwirkung, da Zytokine (z.B. Interleukin-1) lokal wirken sollen. Manche Zytokine sind dagegen Fernbotenstoffe, wie zum Beispiel das Interleukin-6. In auffälligen Mengen im Blut nachweisbar sind Zytokine, wenn im Körper eine Entzündung vorliegt. Dies lässt sich anhand der Blutkörperchensenkung-Geschwindigkeit oder anhand des C-reaktive-Protein (CRP) Spiegels erkennen (Straub, 2017).

Mit Immunfunktionsstörungen wird in dieser Arbeit selbiges gemeint: eine Störung der regulären Funktion des Immunsystems. In beide Richtungen – Das Immunsystem kann zu stark oder zu schwach auf Reize reagieren. Es geht um ein Gleichgewicht, welches durch Stressoren – in diesem Fall frühe Traumata – ins Wanken gebracht wird, sodass das System seine eigentlichen Aufgaben nicht wie üblich erledigen kann. Bei einem gestörten Immunsystem ist dieses nicht mehr oder unzureichend dazu in der Lage, körperfremde oder abnorme Zellen abzuwehren. Störungen des sensiblen Gleichgewichts des Körpers sowie der Funktionen des Immunsystems können verschiedene Erkrankungen hervorrufen oder begünstigen. Es können gehäufte Infektionen, vermehrte Krebszellen oder auch Autoimmunkrankheiten die Folge sein (Helmholtz Zentrum München, 2018).

Stress und Trauma

Eine mögliche, sowie für die Inhalte der vorliegenden Arbeit sehr geeignete, (Teil-) Definition von Stress ist die des wohl wichtigsten oder zumindest bekanntesten Stressforschers Hans Selye. Er "(…) verstand Stress als einen biologischen Prozess, eine breit gefächerte Reihe von Ereignissen im Körper, unabhängig von ihrer Ursache oder subjektiven Wahrnehmung. Stress besteht aus inneren Veränderungen (…) die entstehen, wenn der Organismus eine Bedrohung seiner Existenz oder seines Wohlergehens wahrnimmt" (Maté, 2020, S.33). In der Arbeit wird grundlegend zwischen akutem und chronischem Stress unterschieden. Stress in der Kindheit kann zudem auch in die Kategorien positiv, tolerierbar und toxisch unterteilt werden. Hier wird ersteres definiert als kurzer, schwacher oder moderater Stress, der durch eine zugewandte Bezugsperson begleitet wird. Tolerierbarer Stress kann beschrieben werden als stärkerer nicht üblicher Stress, bei einem bestehenden Gefühl der Kontrolle sowie sozialer Unterstützung. Das Stressniveau ist hoch, wird aber zeitnah wieder auf ein normales Stressniveau heruntergeregelt. Toxischer Stress ist gekennzeichnet durch starke, andauernde Aktivierungen der Stresssysteme ohne ausreichende Unterstützung oder eigene Ressourcen (Shonkoff et al., 2012).

In dem Hauptteil der vorliegenden Arbeit geht es um Stress als übermäßige, chronische oder dauerhafte Belastung. Zudem wird davon ausgegangen, dass frühe Traumatisierungen sowie chronische Stressoren in der Kindheit sich als verstärktes Stresserleben und eine geringere Stresstoleranz im Erwachsenenalter zeigen. Aufgrund dessen wird in der Arbeit auch keine relevante Trennung zwischen den Definitionen chronischer Stress und Trauma vorgenommen. Zwischen frühen (traumatischen) Erfahrungen und Stress im späteren Leben besteht ein sehr prägnanter Zusammenhang, welcher in Wissenschaft und Forschung leider bisweilen vergleichsweise wenig beachtet wurde. Die Literatur zeigt, dass es sowohl Belege gibt, welche vorweisen, dass Menschen mit frühkindlichen Belastungen auch im späteren Leben gehäuft Belastungen oder Traumata erfahren. Sie zeigt aber auch, dass Menschen, die eine traumatische oder stressreiche Kindheit hatten, generell eine geringere Toleranz gegenüber alltäglichen Aufgaben aufweisen, was sich u.a. durch ein chronisch erhöhtes Stresshormonlevel ausdrückt und begründen lässt (Maté, 2020; Nakazawa & Panster, 2019).

Chronischer Stress zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass die Stressantwort des Körpers in kurzen Abständen wiederkehrend oder durchgängig aktiviert wird und dies über einen mehrwöchigen Zeitraum. Traumatischer oder übermäßiger Stress wird von jedem Individuum unterschiedlich als solcher empfunden. Jeder Stressor steht für sich und steht in Wechselwirkung mit der aktuellen (psychischen und körperlichen) Verfassung des Individuums sowie den prägenden ersten Lebensjahren und den Erfahrungen, die ein Mensch bis dato gesammelt hat (Maté, 2020; Schoofs, 2009). Allgemein kann gesagt werden, dass Stress dann nicht tolerierbar, toxisch oder traumatisch wird, sobald das Individuum nach dem Erleben des Stressors kein inneres Gleichgeweicht mehr herstellen kann. Das bedeutet, Menschen können sich prinzipiell von tolerierbaren Stressoren, wie dem Verlust des Arbeitsplatzes oder der Erfahrung einer Scheidung, mithilfe von Freunden, Angehörigen, Sport, Meditation, gesunder Ernährung und gesundem Schlaf gut erholen. Allerdings lässt sich hier leicht erkennen, wie viele Störfaktoren diesen Heilungsprozess blockieren können. Beispielsweise wird Stress dann traumatisch, wenn mehrere eigentlich tolerierbare Faktoren zeitgleich zusammenkommen, wenn keine sozialen oder gesundheitlichen (Coping-), Ressourcen vorliegen, wenn die betroffene Person in einer sensiblen Entwicklungsphase ist (Kleinkindalter, Pubertät) oder keine Ruhephasen zwischen Stressoren vorhanden sind (Karr-Morse et al., 2013). Eine andauernde oder zeitnah immer wiederkehrende Stressbelastung kann für den Körper zahlreiche negative Folgen haben. Dauerbelastungen können u.a. das Immunsystem schwächen und somit zur Entstehung zahlreicher Krankheiten beitragen. Solche Dauerbelastungen finden sich beispielsweise in der Lebensgeschichte von misshandelten, missbrauchten oder vernachlässigten Menschen (Kugler, 2011). Diese Erfahrungen stellen sowohl permanente akute sowie chronische Stressoren dar, als auch zumeist multiple Traumata.

Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde, gehen die Begriffe Stress, chronischer Stress und Traumata ineinander über. Erfahrungen im Kindesalter wie Gewalt, Streit oder Scheidung der Eltern, der Tod eines Elternteils oder Missbrauch stellen sowohl starke (Dauer-) Belastungen, als auch in den meisten Fällen (je nach Definition) Traumata dar. Ein Trauma kann durch ein einmaliges Ereignis, aber auch durch eine Korrelation und Kombination an mehreren, im Einzelnen tolerierbaren, Stressoren repräsentiert werden. Generell werden diese Erfahrungen begleitet von einem Gefühl der Hilflosigkeit und des Kontrollverlustes. Besonders die Unvorhersehbarkeit gilt als besonders toxisch für das sich entwickelnde Kind. Für Kinder ist es aus neuropsychologischer Sicht besonders wichtig zu wissen, was als Nächstes kommt (Nakazawa & Panster, 2019).

Laut Korittko & Pleyer (2014) stellt ein Trauma ein Ereignis dar, dass "sich durch seine erschreckende Plötzlichkeit, durch die Unmöglichkeit von Flucht oder Gegenwehr und durch eine erhöhte Gefahr von Leib und Leben bei den Betroffenen selbst oder bei Zeugen solcher Situationen von anderen Lebensereignissen erheblich unterscheidet" (S. 32). Die AutorInnen differenzieren traumatische Erlebnisse von weiteren familiären Stressoren durch eine Beschreibung des Erlebnisses als außergewöhnliche Bedrohung, welche die Stressverarbeitungsmechanismen bei den meisten Menschen überfordern. Nun ließe sich an dieser Stelle weiter diskutieren, dass auch eine besonders bedrohliche Situation von unterschiedlichen Individuen mit unterschiedlichen Prägungen verschieden wahrgenommen wird und somit eventuell keine allgemeine strenge Definition von Traumata zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit verwendet werden kann. Beispielsweise stellt liebevolle Zuwendung im Säuglingsalter ein lebensnotwendiges Bedürfnis des Kindes dar, weshalb das Nichterhalten dessen theoretisch bereits als Trauma bezeichnet werden könnte (Korittko & Pleyer, 2014). In der Internationalen Klassifikation der Störungen (ICD-10) wird ein Trauma beschrieben als besonders bedrohliches Ereignis, welches bei den meisten Menschen starke Verzweiflung auslösen würde (Hecker & Maercker, 2015). In der vorliegenden Arbeit soll eine Definition von Trauma vorgeschlagen werden, welche die Individualität von Menschen, Situationen und Umweltreizen mit einbezieht. Es soll als Stressfaktor verstanden werden, welcher ein "Zuviel" von dem darstellt, was das Individuum ertragen oder bewältigen kann (Karr-Morse et al., 2013).

Ein Trauma in der Kindheit stellt immer eine Art Umweltstress dar, welcher im Organismus eine Stressantwort auslöst (Brückl & Binder, 2017). Laut Karr-Morse und Kollegen (2013) liegt zudem bei einem Trauma bzw. bei Traumafolgestörungen auch eine chronische Hilflosigkeit vor, die das autonome Nervensystem wiederholt überstimuliert. Des Weiteren entsteht eine verstärkte Sensibilisierung für weitere Stressoren im Lebenslauf sowie eine verminderte Fähigkeit, sich im späteren Leben an Belastungen flexibel anzupassen (Karr-Morse et al., 2013).

Bezüglich der Prävalenz traumatischer Erfahrungen und toxischem Stress in der Kindheit führten beispielsweise Häuser und KollegInnen 2011 eine Querschnittsstudie durch. Sie befragten innerhalb Deutschlands Personen ab 14 Jahren. 2504 der 4455 kontaktierten Personen (56%) schlossen die Studie ab. Die Untersuchung ergab, dass schwerer emotionaler Missbrauch im Kindes- und/oder Jugendalter von 1,6 % der Personen in der Gesamtstichprobe berichtet wurde. Schwerer körperlicher Missbrauch wurde von 2,8 %, emotionale Vernachlässigung von 6,6 % und körperliche Vernachlässigung von 10,8 % berichtet (Häuser et al., 2011). Die nationale Erhebung zur Gewaltexposition von Kindern (NatSCEV) umfasst eine repräsentative Stichprobe von US-Telefonnummern 2013 bis 2014. Über Telefoninterviews wurden Informationen über 4000 Kinder im Alter von 0 bis 17 Jahren über die Exposition gegenüber Gewalt, Kriminalität und Missbrauch erhoben. Insgesamt 15,2 % der Kinder und Jugendlichen wurden von einer Betreuungsperson misshandelt, darunter waren 5 %, die körperliche Misshandlung erlebten. Insgesamt wurden 5,8 % Zeugen eines Übergriffs zwischen den Eltern (Finkelhor et al., 2015). Das Centers for Disease Control and Prevention (2022) gibt an, dass im Jahr 2020 in den Vereinigten Staaten 1.750 Kinder an den Folgen von Missbrauch und Vernachlässigung starben. Es ist aber für jegliche Prävalenz-Angabe von frühkindlichen Traumata und frühem Stress von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen.

Psychoneuroimmunologie

Psychoneuroimmunologie (PNI) ist die Bezeichnung für die Wissenschaft, die sich mit den in Wechselbeziehung stehenden Organen und Drüsen befasst, die unser Verhalten und unser psychologisches Gleichgewicht regulieren (Maté, 2020). Sie beschreibt, wie und ob Umwelteinflüsse (wie psychosozialer Stress oder der sozioökonomische Status) auf die Körpersysteme und dabei hauptsächlich auf das Immunsystem einwirken. Die PNI ergänzt das biomedizinische Paradigma (Reduktionismus und Dualismus) mit einem bio-psycho-sozialen Konzept. Sie erforscht die Wechselwirkungen von Psyche, Nerven- und Immunsystem. Die Systeme beeinflussen sich gegenseitig und wechselseitig. In Abb.1 wird der Schwerpunkt der Arbeit dargestellt: der Weg von der Psyche über das Neuroendokrine System über das Immunsystem zu körperlichen Krankheiten und Immunfunktionsstörungen (Schubert et al., 2018; Glaser & Kiecolt-Glaser, 2005).

Der Begriff (ursprünglich noch Psychoimmunologie) wurde u.a. 1964 von George Freeman Solomon geprägt. Im Zuge seiner Forschungen zur rheumatoiden Arthritis und der Einfluss von Emotionen auf Ausbruch und Schweregrad der Erkrankung. Anschließend ebnete sich die PNI langsam aber beständig den Weg als etablierte eigenständige psychosomatische wissenschaftliche Disziplin (Orlov, 2019; Schüßler, 2009). Wichtige Erkenntnisse, welche auf diesem Weg in der Vergangenheit erlangt wurden, sind u.a. das Wissen um die Konditionierarbeit der Immunfunktionen, den Einfluss des Immunsystems durch Hormone und die Beeinflussung neuronaler Vorgänge durch Zytokine. Neuere Studien zur PNI basieren hauptsächlich auf den immunologischen Konzepten der Th1/Th2-Dichotomie und vermehrten sowie verringerten Entzündungsvorgängen. Ersteres wird in Kapitel 4.3 genauer definiert (Schüßler, 2009).

Die Forschung zu den komplexen Zusammenhängen zwischen chronischem oder frühkindlichem Stress, Traumata, komplexen Traumata und dem Immunsystem ist vergleichsweise neu und wird im Medizinstudium sowie Psychologiestudium immer noch unzureichend thematisiert. Die Befundlage wächst stetig. Die Mechanismen der Zusammenhänge werden weiter bis auf molekularbiologischer sowie epigenetischer Ebene untersucht. Die Forschungserkenntnisse und die Verbreitung des Wissens im Bereich Psychoneuroimmunologie könnten neue Möglichkeiten in Behandlung und Prävention von zahlreichen Krankheiten bieten. Momentan besteht leider weiterhin ein Mangel an der Umsetzung zwischen diesen Erkenntnissen und deren Einsatz in der ambulanten und klinischen Versorgung (Entringer et al., 2016). Auch über die genauen Wirkwege und spezifischen Funktionen des Immunsystems fehlen bisher ausreichende qualitativ hochwertige Längsschnittstudien (Elwenspoek et al., 2017).

Der Einfluss von Traumata und Stress auf das Immunsystem

"Excessive stress activation during early childhood shifts mental and physiological resources from long-term development to immediate survival, increases vigilance at the cost of focused attention, stimulates impulsivity at the cost of behavioral regulation, and limits long-term biological investment in the brain and other organ systems to the detriment of later health and capacity. Over time, chronic stress can alter biological functions associated with immunity, growth, cardiovascular function, metabolism, and sleep" (Shonkoff, 2016, S.2).

Die biologischen und psychischen Mechanismen des Menschen sind undenkbar voneinander zu trennen, wenn man Gesundheit und Krankheit verstehen will. Die eher traditionelle westliche Trennung von Körper und Geist wird glücklicherweise durch die jüngsten Erkenntnisse in der Wissenschaft nach und nach mehr durch eine ganzheitlichere Sichtweise ergänzt (Katz et al., 2012; Maté, 2020; Schubert, 2013). Wichtig zu erwähnen ist, dass die ganzheitliche Perspektive eine einfachere oder mechanistische Perspektive nicht ersetzt. Vielmehr geht es um tiefgründigere Erforschung und Verständnis von Zusammenhängen, welche besonders bezüglich chronischer, sowie wenig erforschter komplexer Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen.In den 1960er Jahren begannen ForscherInnen Studien zu initiieren, welche die Verbindungen zwischen dem Immunsystem und dem Gehirn sowie psychischem Stress erforschen sollten. Viele Studien begannen als Black-Box-Experimente. Mittlerweile konnten einige Verbindungspfade aufgedeckt und dargestellt werden (Straub & Cutolo, 2017).

Eindeutig belegt ist beispielsweise die negative Wirkung von Tabak auf die Zellen des Körpers. Nicht eingeschlossen wird in diese Aussage aber die Begründung, warum manche RaucherInnen an Krebs erkranken und manche nicht. Hierfür werden dann Differenzierungen in Ernährungs- und Lebensweisen vorgenommen. Es kann aber auch die Psychoneuroimmunologie hilfreich sein. Das Immunsystem kann durch chronischen Stress durcheinandergeraten oder geschwächt werden, wodurch das Erkennen von mutierten Tumorzellen verringert oder verhindert werden und somit das Lungenkrebsrisiko erhöht werden kann (Arushanian & Beĭer, 2004; de Punder et al., 2019; Maté, 2020; Schubert, 2013).

Gehirn und Immunsystem beeinflussen sich gegenseitig. Chronischer psychischer Stress kann viele Funktionen des Immunsystem hemmen und unterdrücken. Chronische Entzündungen wiederum, können die Funktionen des Gehirns beeinflussen und das Risiko für Erschöpfungssyndrome und psychiatrische Krankheiten erhöhen (Straub & Cutolo, 2017).

Das Nervensystem ist maßgebend an der Regelung von Immunreaktionen und Inflammationen beteiligt (Kim et al., 2012; Maté, 2020; Schubert, 2013; Straub & Cutolo, 2017) und die Literatur zeigt, dass das Immunstem eine sehr wichtige Schalt- und Betriebszentrale des Körpers darstellt. Das Nervensystem, das neuroendokrine System und das Immunsystem weisen über mehrere Pfade wichtige Vernetzungen auf, was sich beispielsweise darin zeigt, dass u. a. Lymphozyten sowie die natürlichen Killerzellen (NK) Rezeptoren für einige Neurotransmitter und Hormone besitzen (Maté, 2020; Schubert, 2013; Straub & Cutolo, 2017).

Die Theorie und Praxis der Psychologie zeigen, wie wichtig ein ganzheitliches Verständnis für die Behandlung psychischer Krankheiten sowie für die Prävention komorbid auftretender Erkrankungen ist. Wie genau sehen diese Verbindungspfade aus? Mit den genauen Wirkmechanismen zwischen Stress und Immunfunktionsstörungen befasst sich wie gesagt die Psychoneuroimmunologie. Eine wichtige Rolle in der Erklärung der Zusammenhänge von psychischem Stress, psychischen Erkrankungen und dem Immunsystem spielt die veränderte neuroendokrine Stressreaktion. Zudem werden inflammatorischen und oxidativen Prozessen eine tragende Rolle zugeschreiben (Karrasch et al., 2020; Schubert, 2013a). Die Biologie des Stresses wirkt sich auf drei Arten von Geweben oder Organen im menschlichen Organismus aus: Im Hormonsystem können Veränderungen der Nebennieren auftreten, im Immunsystem beeinflusst er die Milz, die Thymusdrüse und die Lymphdrüsen sowie im Verdauungstrakt die Darmschleimhaut. Stress und Angst unterdrücken die Funktionswiese des Immunsystems (Maté,2020).

Grundlegend lässt sich innerhalb der PNI die Reaktion des Körpers, oder genauer des Immunsystems, auf chronischen sowie auf akuten Stress unterscheiden. Unter akutem, kurzfristigem Stress wird die Aktivität des Immunsystems gesteigert und die Abwehr teilweise verbessert. Besteht allerdings dauerhaft und kontinuierlich Stress, so wie dies beispielsweise bei Menschen mit PTBS oder Angststörungen der Fall ist, dann kann dies massive negative Konsequenzen für die Funktionen des Immunsystems sowie dessen Regulation bedeuten (Karrasch et al., 2020). Die genauen immunologischen und biopsychologischen Zusammenhänge sollen in den folgenden Kapiteln dargestellt werden.


Zur Beschreibung der Stressreaktion sind die HPA-Achse und das sympathische Nervensystem (SN) bedeutsam. Das SN agiert v.a. über die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin der Nebenniere, welche durch einen Stressor im Rahmen einer Fight-or-Flight-Reaktion freigesetzt werden (Geiger, 2013; Schoofs, 2009). Die Aktivierung des SN findet hauptsächlich im Hypothalamus statt. Dieser steht zudem in Verbindung mit dem limbischen System, welches Emotionen mit Erfahrungen verknüpft. Dort werden Stressoren wahrgenommen und weitergeleitet. Das sympathische Nervensystem wird aktiviert, was auf immunologischer Ebene die Bildung von Leukozyten veranlasst (Wegert, 2013). Im Gegenzug dazu werden dem parasympathischen Nervensystem entzündungshemmende und immunsuppressive Eigenschaften bei Aktivierung zugeschrieben (Straub & Cutolo, 2017). Das SN aktiviert antivirale und proinflammatorische Gene über verschiedene Wege, darunter über die Bildung von Zytokinen (Pakulat 2018).

In der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus auf dem ersten Hauptakteur der Stressantwort: der HPA-Achse. Stress und Traumata lösen zunächst die gleiche biologische Reaktion aus (Karr-Morse et al., 2013). Die Stärke der Stressantwort variiert zwischen verschiedenen Stressauslösern und der betreffenden Person (Schoofs, 2009). Die akute immunologische Reaktion auf Stress oder psychosoziale Belastungen bewirkt u.a. eine kurzfristige Leistungssteigerung, einen Anstieg der Aktivität von Makrophagen sowie eine Erhöhung von entzündungsfördernden Zytokinen (z. B. Interleukin-6) und eine Steigerung der Aktivität der natürlichen Killerzellen (NK). Kurzfristiger Stress steigert die angeborene und adaptive Immunität und ist prinzipiell für den Körper sehr wichtig, wird aber auf lange Sicht schädlich wirken, weshalb der Organismus über ein Feedback-System verfügt, welches die Stress- und Immunreaktion wieder einzudämmen vermag (Dhabhar, 2013; Fries et al., 2005; Groer et al., 2006; Schubert, 2013).

In diesem Zusammenhang wichtig ist es, genauer auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (hypothalamic-,pituitary-adrenal axis), kurz HPA-Achse (Abb.3), einzugehen und ihre Relevanz zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen seelischen Traumata und körperlichen, genauer immunologischen Folgen zu erläutern (Knop et al., 2020; Nakazawa & Panster, 2019). Die HPA-Achse beschreibt das Zusammenspiel von Hypothalamus, Hypophyse und Nebenniere als physiologische Antwort auf einen Stressor. Sie wird vordergründig durch seelische Einflussfaktoren wie Konflikte, das Gefühl von Unsicherheit oder einem empfundenen Mangel an Informationen und Kontrolle aktiviert. D. h. Stress (wie Schmerz, Lärm, Angst) und traumatische Erfahrungen aktivieren die HPA-Achse. Diese Antwort auf Stressoren beginnt bei der Aktivierung des Hypothalamus. Dies bewirkt die Ausschüttung des Kortikotropin-Releasing-Hormons (CRH) über ein spezielles Gefäßsystem, das Portalsystem an den Zielort. So gelangt dies zur Hypophyse, wo es Zellen im Hyophysen-Vorderlappenanteil anregt, ACTH zu bilden (adrenokortikotropes Hormon). ACTH wiederum bewirkt in der Nebennierenrinde die Ausschüttung von Glukokortikoiden darunter Cortisol, welche unter anderem die akute Anpassung des Körpers an den Stressor unterstützen. Die drei genannten Hormone formieren diverse Feedbackschleifen, um eine bestmögliche Regulation der Erzeugung und Sekretion dieser Botenstoffe zu ermöglichen. Anschließend wird durch die Glukokorticoide die Glykoneogenese angeregt, wodurch Energieressourcen bereitgestellt werden. Ist das belastende Ereignis nicht mehr präsent, erholt sich der Körper und beendet diese sogenannte "Kampf-oder-Flucht-Reaktion" (Brückl & Binder, 2017; Kugler, 2010; Maté, 2020; Nakazawa & Panster, 2019; Schoofs, 2009; Schubert, 2013a; Wegert, 2013).

Chronischer Stress und Trauma

Die normale akute Stressreaktion ist wichtig und vergleichsweise ungefährlich für den Körper. Sie dient dem Organismus dazu, auf eventuell gefährliche Reize zeitnah reagieren zu können (Schoofs, 2009). Die Forschung belegt, dass frühe und wiederholte Stresserfahrungen Auswirkungen auf neuroendokrine, -immunologische und metabolische Systeme haben. Eine dauerhafte Überstimulation der HPA-Achse bewirkt, dass der Ruhezustand, welcher normalerweise nach einem Stressor erzeugt wird, nicht mehr oder unzureichend erreicht werden kann. Eine solche Überstimulation stellt beispielsweise Hyperarousal dar, welches oft bei Menschen auftritt, die in ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht haben (Karr-Morse et al., 2013; Knop et al., 2020). Die Entwicklung der HPA-Achse ist abhängig von Erfahrungen und durch traumatische Stressoren stark beeinflussbar. Vor allem bei Kleinkindern ist die HPA-Achse noch in der Entwicklung. Ein empfundener Mangel an Sicherheit und stetige Übererregung haben hier einen starken, meist lebenslangen, Einfluss (Geiger, 2013; Maté, 2020; Nakazawa & Panster, 2019). Chronischer, traumatischer Stress verstärkt im Körper vermehrt Entzündungsvorgänge, welche wiederum die Basis für zahlreiche Krankheiten bilden (Nakazawa & Panster, 2019). Diese Fehlregulation der HPA-Achse bei traumatisierten oder chronisch gestressten Kindern und Erwachsenen wird in zahlreichen Studien und Übersichtsarbeiten belegt (Brückl & Binder, 2017; Entringer et al., 2016; Knop et al., 2020; Miller et al., 2002; Schubert; 2013; Schubert, 2016; Schoofs, 2009). Forschungen, welche psychisch kranke Menschen untersuchen, zeigen einen signifikanten Zusammenhang zwischen Kindesmisshandlung und Merkmalen einer gesteigerten HPA-Aktivität (Brückl & Binder, 2017; De Bellis & Zisk, 2014).

Im Detail führt die stetig aktivierte HPA-Achse meist zu einem langfristigen Anstieg des Cortisols im Blut (Hypercortisolismus). Hypercortisolismus kann eine Immunsuppression mit sich bringen. Dabei kann es zur verminderten Sekretion pro-inflammatorischer Zytokine, Atrophie (Verkümmerung, Verkleinerung) lymphatischer Organe und einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen kommen.Dauert ein Cortisol-Anstieg zu lange an, kann eine schlechtere Empfindlichkeit auf Glucocorticoide die Folge sein. Dies kann zu Hypocortisolismus und zur Glucocorticoidresistenz führen. Letzteres bedeutet, dass Cortisol zwar ausreichend freigesetzt wird, die Rezeptoren aber nicht genügend ansprechen. Dadurch kann der Organismus nicht mehr ausreichend vor überschießenden oder anhaltenden Entzündungsreaktionen geschützt werden. Es konnte gezeigt werden, dass Menschen, die als Kind misshandelt oder vernachlässigt wurden, später höhere Werte des C reaktiven Proteins (CRP), der proinflammatorischen Zytokine und höhere Fibrinogenspiegel aufweisen. Auf Zellebene steigt die Anzahl regulatorischer T-Zellen und NK-Zellen. Erhöhte Werte an proinflammatorischen Zytokinen können DNA-Störungen induzieren und die Reperaturmechanismen der DNA einschränken, was das Risiko für Tumorzellwachstum erhöhen kann. Es nimmt die Telomerlänge – das biologische Korrelat zellulärer Replikationsfähigkeit – in Leukozyten bzw. generell in Immunzellen ab. Eine Verkürzung der chromosomalen Telomere durch psychosozialen Stress bewirkt eine vorzeitige Alterung des Körpers. Hier zeigt die Forschung sowohl eine Korrelation zwischen der Schwere des Traumas und der Telomerlänge, als auch eine signifikante Telomerverkürzung bei Kindern, die pränatalem Stress ausgesetzt waren (Brückl & Binder, 2017; Coelho et al., 2013; Coimbra et al., 2017; de Punder et al., 2019; Dhabhar, 2013; Fries et al., 2005; Geiger, 2013; Korin, 2016; Kugler, 2011; Schoofs, 2009; Schubert, 2016).

Die Entzündungsreaktionen können zu einer Beeinträchtigung der Immunabwehr führen. Dies wiederum begünstigt Allergien und virale Infektionen. Es kann zum körpereigenen Angriff von Gewebe kommen und somit können Autoimmunkrankheiten die Folge sein (Karr-Morse et al., 2013; Kugler, 2010; Maté, 2020; Pakulak et al., 2018; Schubert, 2013; Wortmüller, 2021). Die Befunde zu Hypo- und Hypercortisolismus nach Erfahrungen von chronischem und traumatischem Stress fallen in der Literatur zum Teil unterschiedlich aus. Je nach Messzeitpunkt oder individueller Lebensgeschichte können höhere, niedrigere, gleiche oder abgestumpfte Cortisolreaktionen und Cortisolkonzentrationen gemessen werden. Weitere Messgrößen der HPA-Achse wie ACTH zeigen ebenfalls widersprüchliche Befunde. Über alle in dieser Arbeit recherchierten und/oder verwendeten Artikel hinweg sowie über die Analyse der Einflussfaktoren und Limitierungen in der Vergleichsmöglichkeit der Quellen konnte aber eine starke Tendenz hin zu dem Übergang vom Hypercortisolismus zum Hypocortisolismus in Korrelation zum Faktor der vergehenden Zeit nach Erleben des Stresses/der Traumata erkannt werden (Black, 1994; De Bellis & Zisk, 2014; Karr-Morse et al., 2013; Kugler, 2010; Maté, 2020; Pakulak et al., 2018; Schubert, 2013).

Der Wechsel vom Hypercortisolismus zum Hypocortisolismus (sowie die Entzündungsanstiege) wird in der Literatur auch als "Crash" des Stresssystems bezeichnet. Laut Schubert (2013, S.173) weist einiges darauf hin, "dass die Weichen für eine Erschöpfung des Stresssystems und die damit verbundene Entwicklung von TH1-assoziierten Entzündungskrankheiten im Erwachsenenalter bereits sehr früh, möglicherweise schon im fetalen Leben gestellt werden." D.h. Krankheiten entstehen nicht plötzlich. Laut dem Arzt und Autor Dr. Gabor Maté (2020) haben die Fälle von chronischen Krankheiten oder Autoimmunerkrankungen, mit denen er sich langjährig beschäftigt hat, die Gemeinsamkeit, dass alle PatientInnen einen frühen Verlust erlitten haben oder frühe Beziehungen emotional stark unerfüllt waren (Maté, 2020). Er schreibt: "Frühkindliche emotionale Entbehrung wird in der Lebensgeschichte von Erwachsenen mit schweren Krankheiten (…) durch eine beeindruckende Anzahl von Untersuchungen in der medizinischen und psychologischen Literatur belegt" (Maté, 2020, S.207). Dennoch ist es vergleichsweise schwer, homogene und direkte Belege für die Zusammenhänge zwischen frühkindlichen Traumata, dem Crash im Stresssystem und körperlichen Erkrankungen im weiteren Leben zu finden. Dies liegt u. a. an der enormen Komplexität der einzelnen Korrelationen, an der langen Dauer der dafür notwendigen Studien (Lebensspanne) sowie an den multifaktoriellen Ursachen von komplexen Krankheiten. Auch je nach Art und Länge der Traumata sowie komorbiden Krankheiten können sich andere Veränderungen der Stresssysteme ergeben. Einen weiteren Faktor stellt, wie bereits erwähnt, auch der Zeitpunkt der Untersuchung/Befragung dar. Der Organismus durchläuft im Lauf der Zeit verschiedene Habituationsprozesse. Hierzu lässt sich beispielhaft die Longitudinalstudie von Trickett et al. (2010) nennen. Die Untersuchungen ergaben gesteigerte morgendliche Cortisolwerte bei sexuell missbrauchten Mädchen. Mit fortschreitendem Alter jedoch, nahmen diese Werte ab und wiesen zuletzt unterdurchschnittliche Ergebnisse auf (Brückl & Binder, 2017; Trickett et al., 2010).

Ein weiterer Einflussfaktor kann die Individualität von Resilienzfaktoren in den Familien sein. Hier zeigen Studien, dass trotz der Erfahrung, mit einem misshandelnden Elternteil zusammenzuleben, ein zweiter, Sicherheit gebender und bindungsfähiger Elternteil diese Belastung abfedern und somit die schädlichen Folgen mindern kann. Eine sichere Bindung führt unter anderem zu vermehrter Ausschüttung von Oxytozin, was sich wiederum regulierend auf die HPA-Achse auswirkt (Brückl & Binder, 2017; Wingenfeld, 2003).

Die Beziehungen zwischen dem Gehirn und den Funktionen des endokrinen, autonomen und des Immunsystems zu verstehen, bildet eine wichtige Grundlage zum besseren Verständnis von Risikofaktoren, zur besseren Prävention sowie zur ganzheitlicheren Behandlung von sowohl seelisch als auch körperlich (chronisch) kranken PatientInnen (De Bellis & Zisk, 2014; Pakulat 2018). Die veränderte Stressreaktion stellt den wahrscheinlich wichtigsten Erklärungsfaktor für den Zusammenhang zwischen frühen Traumata und Immunfunktionsstörungen im Erwachsenenalter dar (Brückl & Binder, 2017; Katz et al., 2012; Knop et al., 2020; Schubert, 2013). Der Mensch muss dabei keinem schweren Missbrauch exponiert sein, damit es zu biophysikalischen Veränderungen kommt. Schon ein Aufwachsen mit einem Elternteil, welcher das Kind herabsetzt und demütigt, kann lebenslange Veränderungen der Gehirn- und Immunfunktionen zur Folge haben (Maté, 2020; Wortmüller, 2021).

Gabor Maté beschreibt in seinem Buch "Wenn der Körper Nein sagt" (2020), welchen starken Einfluss unterdrückte Gefühle und schwierige traumatische Bindungserfahrungen langfristig auf das Immunsystem haben können. Er beschreibt anhand von Praxisbeispielen, welche entscheidende Rolle unterdrückte Wut sowie die Unfähigkeit, Gefühle zu verarbeiten und die Neigung, immer für die Bedürfnisse anderer Menschen da zu sein, für die körperliche und seelische Gesundheit spielen. Er vergleicht hierbei u. a. die Fähigkeit, sich selbst und eigene Bedürfnisse von anderen differenzieren zu können, mit der Fähigkeit des Immunsystems Selbst vom Nicht-Selbst differenzieren zu können. Nun bieten einzelne Fallbeispiele keine direkten Belege für einen Zusammenhang dieser beiden Faktoren, stellen aber eine gute Basis dar, um ein besseres und unvoreingenommeneres Verständnis für die komplexen Zusammenhänge von Psyche und Immunsystem zu entwickeln, sowie weitere Forschung darüber zu studieren oder anzuregen (Maté, 2020).

Klar belegt werden konnten bisher einige Veränderungen auf körperlicher bzw. Zellebene. Biologische Folgen von widrigen Erfahrungen in der Kindheit stellen ein erhöhtes Risiko für endokrine und inflammatorische Veränderungen dar. So wurde in diesem Zusammenhang eine veränderte Stressantwort des Körpers, ein Anstieg von Entzündungsmakern im Blut und eine Veränderung der Kortisol- und Dehydroepiandrosteron-Spiegel nachgewiesen. Besonders die Zusammenhänge zwischen Cortisolwerten und dem Immunsystem sind dabei von hoher Relevanz (Geiger, 2013). Es konnte gezeigt werden, dass jene Personen, die in Ihrer Kindheit widrigen Lebensumständen und Misshandlungen ausgesetzt waren, im späteren Leben nicht nur mit einer veränderten, sondern auch mit einer stärkeren Immunreaktion auf Stressoren reagieren als jene ohne kindliche Belastungen, was als präventive Anpassung auf wiederholten möglichen Stress interpretiert werden kann(Karrasch et al., 2020). Es konnten erhöhte Interleukin-6 Konzentrationen, sowie vermehrt entzündungsfördernde Zytokine nachgewiesen werden bei in der Kindheit misshandelten Menschen, welche akutem Stress ausgesetzt waren, im Vergleich zur Kontrollgruppe, welche akutem Stress ausgesetzt war (De Bellis & Zisk, 2014)

Die Adverse Childhood Experiences (ACE)-Studie zeigt deutlich, welch hohe Relevanz frühe widrige Lebensumstände in der Ätiologie von Immunfunktionsstörungen und Entzündungskrankheiten haben (Schubert, 2013). Neben der ACE – Studie und den oben beschriebenen Artikeln existieren weitere, aber vergleichsweise wenige veröffentlichte Forschungsergebnisse zum Zusammenhang von frühen Traumatisierungen und Immunfunktionsstörungen.

Die Forschung von Danese und KollegInnen konnte zeigen, dass früher Stress (wie eine Trennung von wichtigen Bezugspersonen, Zurückweisung durch die Eltern, körperlicher und sexueller Missbrauch) mit vermehrten Entzündungen in Verbindung gebracht wird. Misshandelte Kinder zeigten im Erwachsenenalter einen signifikanten und abgestuften Anstieg des Risikos für klinisch relevante C-reaktive Proteinspiegel. Die Wirkung von Kindesmisshandlung auf die Entzündung im Erwachsenenalter war unabhängig vom Einfluss gleichzeitig auftretender Risiken im frühen Leben, Stress im Erwachsenenalter und Gesundheit sowie Gesundheitsverhalten im Erwachsenenalter. Mehr als 10 % der Fälle von leichten Entzündungen in der Bevölkerung, die durch einen hohen C-reaktiven Proteingehalt indiziert werden, können laut den AutorInnen auf Misshandlungen in der Kindheit zurückzuführen sein (Danese et al., 2007; Danese et al., 2008).

Ein weiterer möglicher Faktor, welcher seelische Traumata mit Immunfunktionsstörungen verbindet, ist die biophysikalische Konsequenz von Stresshormonen auf die menschliche Darmgesundheit. Hier zeigt die Literatur, dass beispielsweise die Darmwände durch zu viel oder chronischen Stress angegriffen und durchlässiger werden, was wiederum negative Folgen auf die Funktionen der Abwehrsysteme hat. Darmprobleme haben sehr komplexe multifaktorielle Auswirkungen auf den Organismus, darunter höhere Risiken für Entzündungen, Schlafprobleme und chronische Schmerzen. Diese Faktoren für sich können bereits schädlich auf das Immunsystem wirken und somit wiederum indirekt Immunfunktionsstörungen auslösen (Rotter, 2017; Straub, 2017; Zaiss, 2022). Hinzu kommt der Fakt, dass in den bisher genannten Studien und Artikeln wichtige Störfaktoren rausgerechnet wurden. Es ergeben sich viele weitere, eine Immunfunktionsstörung verstärkende, Kovariablen aus den Erfahrungen von frühen Traumata, welche hier zur Erfassung des direkten Zusammenhangs zwischen Traumata und dem Immunsystem nicht inkludiert werden. Eine ungesunde Lebensweise verstärkt die bereits vorhandene hohe Entzündungsaktivität des Körpers bei Menschen, die frühem Stress ausgesetzt waren. Diese verstärkte Entzündungsaktivität kann wiederum für sich das Risiko für psychische und körperliche Symptome erhöhen, was wiederum eine gesunde Lebensweise erschweren kann, usw. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass ungesunde Ernährung und Stress synergetisch wirken und zusammen eine ausgeprägtere Entzündung begünstigen als jeder Faktor für sich allein (Miller et al., 2011).


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L. Ehrlichmann
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